Lechtaler Wallfahrer im Sperrbachtobel.
Von einer „kleinen Kapelle am Oberen Knie” schreibt Hermann von Barth in seinem 1874 erschienenen Standardwerk „Aus den Nördlichen Kalkalpen”. Diese befand sich nach seinen Angaben auf einem von dem Geometer Sendtner im Jahre 1825 vermessenen und fixierten Vorsprung zwischen oberer Trettach und Sperrbach, auf dem Weg von Spielmannsau zum »Mädelejoch.
In mündlichen Oberstdorfer Überlieferungen wird jedoch nur vom Knie-Hüttle, einem Heuber-Hüttchen an dieser Stelle berichtet. Warum schreibt der sonst so akribische Hermann von Barth von einer Kapelle und nicht von einer Heuber-Hütte? Einige geschichtlich interessierte Oberstdorfer fanden unter überwachsenen Gras die Steine der Grundmauern eines kleinen Gebäudes von ca. 2,50 × 3,50 m. Die Ausrichtung war von Ost nach West. Zwischen den großen Mauersteinen im Erdboden wurden noch zerfallene Kalkteilchen sichtbar.
Eine erhellende Antwort auf die Frage nach Herkunft und Bedeutung der Überreste gibt ein barockes Votivbild von 1760 in der Marienkapelle zu Loretto, südlich von Oberstdorf. Eine festlich gekleidete, stattliche Pilgerschar trifft mit wehenden Fahnen am Wallfahrtsort ein, wo sie von einem Geistlichen gebührend empfangen wird. Durch ein prächtiges Barockornament getrennt sind die Lechtaler Kirchen von Holzgau, Elbigenalp und Bach zu erkennen. Die Gnade des Himmels und der Lieben Frau von Loretto ergießt sich sichtbar über die bewegte Szenerie.
Zu Wallfahrten aus dem Lechtal nach Oberstdorf finden wir in den Chroniken folgende Spuren: „1665 war ein heißer Sommer, daß fast alles schier verbrannte. Es gingen deshalb die Lechthaler mit dem Kreuz nach Maria Loretto, um einen Regen von Gott zu erbitten. Ehe sie wieder heim kamen, regnete es Gott sei Dank und Maria zur Ehr” (Jos. Ignaz Math).
Eine „Bruderschaftsrechnung” in Elbigenalp aus dem Jahre 1667 belegt die Spesen einer Vereinigung von Spielleuten für deren Ausrücken nach Loretto von 3 Fl. 30 Kr. 1676 erhielt der Holzgauer Pfarrer für drei Bittgänge 3 Fl. 1673 ist die erste „Große Lechtaler Kreuzprozession” nachgewiesen, der noch mehrere folgen sollten. Betrachten wir noch dazu das rege Geldverleihgeschäft der im Ausland zu Reichtum gekommenen Holzgauer mit Oberstdorf und der weiteren Umgebung sowie die Anziehungskraft der Oberstdorfer Märkte, so bestand sicher reger Paßverkehr übers Mädelejoch. Vor dem wilden Sperrbachtobel bzw. nach dessen Durchquerung war eine besinnliche Rast am „Knie” hoch über der „Hölle” sicher willkommen. Um Schutz vor Unwetter und Beistand des Himmels konnte hier gebetet werden.
Am Ende des 18. Jahrhunderts wurden die einst so prächtigen Wallfahrten aus moralischen Gründen eingestellt. Durch die gemeinsame Übernachtung im Heustock des Benefiziatenhauses in Loretto soll mehrmals nach neun Monaten ein ungewollter Bevölkerungszuwachs stattgefunden haben, bei dem die Väter nicht zu identifizieren waren. Schließlich wurden 1804 im Zuge der Säkularisation sämtliche Wallfahrten von Staatswegen verboten und die Lorettokapellen zum Abbruch freigegeben.
Der Kauf durch die Marktgemeinde Oberstdorf, mit finanzieller Beihilfe einiger Holzgauer Nachbarn, rettete dieses kostbare Kleinod für die Nachwelt. Die aufklärerischen Zeitumstände machten dann nach einer bestimmten Zeit aus der Kniekapelle ein Kniehüttle, das schließlich nach 1900 vermutlich infolge winterlicher Lawinenabgänge, durch Brand oder Verfall verschwand und in Vergessenheit geriet.
Fast 90 Jahre später sah der Holzgauer Pfarrer Marc Sommer bei einem zufälligen Besuch in Loretto das Votivbild und entdeckte darauf die jetzt noch in Holzgau vorhandenen prächtigen Kirchenfahnen. Es stellte sich die Frage: Könnte die Wallfahrt übers Gebirge nicht wieder erweckt werden? - Schließlich trafen im September 1992 wieder 35 müde, aber glückliche Pilger aus dem Lechtal in Loretto ein.
Eine festliche Wallfahrtsmesse und danach eine zünftige Einkehr sind Nahrung für Seele und Leib und wecken den Wunsch nach Wiederholung. Dies empfand 1996 auch eine große Oberstdorfer Pilgergruppe unter der geistlichen Leitung ihres Pfarrers Peter Guggenberger, die trotz strömendem Regen zu ihrem Gegenbesuch in Holzgau eintraf. Ihr Ziel war die Kirche Maria Himmelfahrt, die weit sichtbar den schmucken Gebirgsort überragt. Alte Freundschaften lebten wieder auf, neue bahnten sich an und der trennende Allgäuer Hochgebirgskamm wurde wieder zur gegenseitigen Verbindung.
In diesem Umfeld entstand die Idee, eine kleine Gedenkstätte oder Kapelle am Knie zu errichten. Sie fand reges Interesse. Ein schlichter Baukörper aus Natursteinen mit einem von Bildhauermeister Alois Ohmayer entworfenen Holzdach würde sicher am besten mit der Natur harmonieren. Der Verein der Ehemaligen Rechtler als Grundeigentümer erteilte bereitwillig seine Zustimmung. So begann eine kleine Gruppe von engagierten Freiwilligen aus Oberstdorf und Fischen mit den Arbeiten in luftiger Höhe.
Sie kamen trotz teilweise widriger Witterungsverhältnisse gut voran und fanden reges Interesse bei der Bevölkerung. Dies machte sich nicht zuletzt in bereitwilligen Spenden bemerkbar. Eine ansehnliche Summe kam auch von der Lechtaler Seite aus Holzgau.
Ein treffendes Motiv für das zentrale Bild fand die Oberstdorfer Bäuerin und Glasmalerin Anneliese Titscher. In Anlehnung an das historische Votivbild sind die Loretto-Kapellen und die Kirchen des oberen Lechtales abgebildet. Zwei gegenläufige, ineinander verschlungene Rosenkränze symbolisieren die Wallfahrt. Die Mutter Gottes steht schützend über Berg und Tal und deren Bewohnern.
So konnten 1998 am Festtag Mariä Himmelfahrt Pfarrer Guggenberger und Pfarrer Sommer inmitten einer großen Pilgerschar die Einweihung mit einer feierlichen Messe gestalten und Gottes Segen für diesen Ort erbitten.
Eine gehörigen Schrecken erfuhren die ersten Berggänger im Frühjahr 1999, als sie feststellen mußten, daß der zurückliegende Katastrophenwinter auch im Trettachtal und im Sperrbachtobel gewaltig gewütet hatte. Wo zuvor noch dichte Wälder standen, waren nur noch breite, kahle Schneisen. In den Talgründen türmten sich bis zu 40 Meter hohe Lawinenkegel aus Schnee, Eis, Steinen, Holz und Wurzelwerk. Die „Hölle”, eine im Sommer unzugängliche Klamm des Sperrbaches, war mit Schneemassen bis zu 50 Meter hoch angefüllt und somit relativ gut begehbar.
Darüber standen die verbliebenen Reste der neuerbauten Kapelle auf dem schneefreien Bergvorsprung. Die gewaltige Druckwelle einer riesigen Lawine vom Fürschießer hatte sich offensichtlich in der offenen Kapelle komprimiert. Der tonnenschwere Baukörper war mitsamt dem Betonfundament aus der Verankerung gerissen worden und stand ohne Dach schräg in den Himmel. Das Dach wurde später teilweise an einer Randspalte der „Hölle” gesichtet.
Ein einzelner Balken des Vordaches wurde weit unterhalb der Sperrbachmündung in ca. 1 km Luftlinie entfernt entdeckt. Der eigentliche Baukörper aus Natursteinen war jedoch im Gesamten erhalten geblieben und das von Anneliese Titscher geschaffene Hinterglasbild stand, am oberen Ende frei in der Luft, ohne einen Kratzer oder Riß abbekommen zu haben. Für viele war dies ein Wunder.
Die Reparaturarbeiten wurden alsbald aufgenommen. Den Baukörper brachte man in seine ursprüngliche Lage und verankerte ihn mit 5 cbm Spezialbeton, der mit dem Hubschrauber an diese ausgesetzte Stelle geflogen wurde. Das ehemalige Holzdach wurde durch ein betoniertes Gewölbe ersetzt. So konnte am 16. August 1999, wieder unter großer Teilnahme, auch von Lechtaler Seite, die erneute Segnung stattfinden.
Nun können wir nur hoffen, daß die kleine Kapelle am Knie als Ort der Ruhe und Besinnung für viele Bergwanderer und Pilger in Zukunft erhalten bleibt und die Wallfahrten als Weg der Freude und Begegnung Oberstdorfer und Lechtaler Bürger weiterhin zusammenführen.
Quellen:
Paul Schwendinger: Das Obere Lechtal;
Schöllanger Chronik;
Chronik des Jos. Ignaz Math;
Mayer/Merk: Loretto, Geschichte und Beschreibung;
Hermann von Barth: Aus den Nördlichen Kalkalpen (S. 233);
Meinhard Kling: Kapellen im Bereich Oberstdorf
Für Informationen zu Dank verpflichtet:
Johann Blaas, Holzgau;
Frieda Math, Oberstdorf;
Hans Kappeler, Oberstdorf