Die »Skihütte Karatsbichl« 1927.
Als den „Karatsbichl” - 1637 als „Conratsbühl” erwähnt - bezeichnet man das sanfte Wiesengelände am Fuß des Höllenberges, der vom Söllereck talwärts zieht.
In früherer Zeit bestand dieses Gebiet aus großen, von Bauernhand gepflegten Wiesen, umgeben von schmalen Waldsäumen. Es eignete sich deshalb später hervorragend zum Skifahren.
Nachdem der Skilauf Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zum allgemeinen Wintersport wurde, entstand Jahre vor dem Bau der Oberstdorfer Bergbahnen am Karatsbichl ein Skigelände. Seine Bekanntheit verdankte es ganz wesentlich den Gebrüdern Hermann (geb. 1900) und Lise (geb. 1902) Schedler. Diese waren schon früh begeisterte Anhänger des noch jungen Skisports und Mitglieder des 1906 gegründeten Oberstdorfer Skivereins, der 1910 in Skiclub umbenannt wurde. Während sich Lise in Slalom, Abfahrt und Sprunglauf hervortat, lagen Hermann eher die Abfahrt und der Langlauf. Beide brachten unzählige Preise mit nach Hause, wovon noch eine Reihe von Urkunden im Haus Karatsbichl Zeugnis ablegen.
Ihre ersten Skier fertigten sie noch selbst aus Eschenholz an, indem sie die Spitzen im heißen Wasser des „Herdschiffchens” aufbogen. Als Bindung dienten erst noch aufgenagelte Hausschuhe, in welche man mit Halbschuhen einstieg. Keine Frage, daß man oft aus der Bindung fiel, was sich vor allem bei Skirennen nachteilig auswirkte! Deshalb gab es unter den Brüdern die Empfehlung, einen Schuhlöffel mitzuführen.
Schon 1922 bzw. 1924 hatten Hermann und Lise Schedler die Skilehrerprüfung abgelegt und wenig später die „Skischule Schedler” am Karatsbichl gegründet. Das Abzeichen dazu entwarf Freund Willi Huber. Man lehrte „Christiania” und „Telemark” im eleganten Skianzug aus „Homespoon”-Tuch mit hellen Knickerbockers und roter Wollbluse. Persönlichkeiten wie Sachsens damaliger Kultusminister Kaiser mit Frau Alice und Tochter Lotte von Seeberg, die Schauspielerin Magda Schneider, die Fabrikantenfamilie Reemtsma und Graf Hubert zu Neippberg aus Schwaigern/Heilbronn zählten zu Hermanns Skischülern. Seine wohl prominenteste Schülerin aber war die holländische Kronprinzessin Juliane, die 1930 mit Gefolge am Karatsbichl das Skilaufen lernte.
Mit dem Syndikus der Rheinischen Gaswerke, Dr. Karl Krüger aus Saarbrücken, kam Hermann, ebenfalls 1930, das erste Mal - noch über den alten Saumweg - nach Saas Fee ins Wallis und befuhr dort von der Britanniahütte aus die Eisrinne nach Mattmark. 1931 war er mit Dr. Krüger in den aufstrebenden Schweizer Skiorten Arosa, Davos und Pontresina - Diavolezza.
Das große Vorbild der Gebrüder Schedler aber war der Arlberger Skipionier Hannes Schneider aus St. Anton. Fasziniert von den Fanck-Skifilmen mit Hannes Schneider, insbesondere vom „Wunder des Schneeschuhs” (1920), traten sie den Weg zum Arlberg an. Er führte sie mit Skiern über Schrattenwang nach Mittelberg ins Kleine Walsertal, über den Hochalppaß nach Hochkrumbach, die Auenfelder nach Lech, Zürs und St. Anton. Selbstredend, daß es die beiden auf dem Weg dorthin dem Hannes Schneider gleichtaten und dessen waghalsigen Sprung über den Zürser Bach ausführten!
1928 waren Hermann und Lise auf Einladung Schneiders wiederum in St. Anton und fuhren dort ihren ersten Slalom gegen internationale Konkurrenz. Lise konnte sich für das 1. Arlberg-Kandaharrennen qualifizieren, welches am 5. März 1928 als Slalomrennen durchgeführt wurde. Schneider hätte die schwarzhaarigen Schedler-Buben gerne bei sich in St. Anton als Skilehrer behalten, doch diese träumten von einem Skidorf, das sie, nach dem Vorbild von Zürs, zu Hause gründen wollten. Anfang der 30er Jahre wäre der Plan beinahe Wirklichkeit geworden und zwar in den Mösern vom Warmatsgund, auf 1.520 m Höhe. 14 Teilhaber hatten den Kaufpreis von 65.000 Reichsmark bereits ausgehandelt, die Verbriefung stand unmittelbar bevor, als die Alpe Warmatsgund „nationalsozialistischen Zwecken” zugeführt werden mußte. Die Ordensburg in Sonthofen kaufte das Areal 1936 von den Wittelsbachern. Heute steht an dieser Stelle das „Naturfreundehaus Kanzelwand”.
Wenn der Name „Karatsbichl” fällt, geht vielen Oberstdorfern das Herz auf. Zu viele schöne Erinnerungen sind mit dem Skilauf und diesem Ort verbunden. Gerne erzählt die ältere Generation noch von dem „Looping”, den die Schedler-Brüder über eine kleine Schanze vollführten. Der alte Schedler- Vater Karl, von Beruf Landwirt und Pfarrmesner, amüsierte sich an den Skikünsten seiner jüngsten Söhne. Dieser Mann, dem die Oberstdorfer eine Aufzeichnung der alten Hausnamen verdanken, war sehr belesen und aufgeschlossen. Er übte sich nicht nur in Esperanto, sondern fuhr auch als einer der ersten in Oberstdorf mit dem Hochrad. Er war denn auch bereit, auf seinem Grundstück am Karatsbichl ein kleines „Gästehäusel” erbauen zu lassen. So enstand im Jahr 1927 nach einem Plan von Zimmermeister Hans Haneberg die „Skihütte Karatsbichl” und zwar in Eigenarbeit der Brüder Karl, Ernst, Hermann und Lise Schedler, zusammen mit ihrem Freund Anton Jäger (Geagl). Wilhelm Math schnitzte das originelle Türschild, die Lampen und Garderoben und für den Eingang zur Wirtsstube ein Prachtstück von einem Gemskopf.
Zuerst bewirteten die Geschwister Schedler (Hermann, Lise und Agathle) die kleine Gaststätte. 1931 übernahm Hermann Schedler mit seiner jungen Frau Hannele (geb. Blattner) das Haus, dem noch eine kleine Landwirtschaft angeschlossen wurde. „Es war eine unbeschwerte, fröhliche Zeit voll Musik und Gesang der Geschwister Schedler und ohne die Pressiererei von heute”, erinnert sich das inzwischen 92jährige Hannele.
Im selben Jahr erlebte die Skihütte ihre erste Erweiterung nach einem Plan von Architekt Willi Huber. Zur Wiedereröffnung präsentierte dieser eine Tuschezeichnung mit dem Titel: „Aktiver Widerstand”. Es zeigte Mahatma Gandhi beim Stockreiten. Dies geschah nicht nur aus aktuellem politischen Grund, sondern schon eher im Hinblick auf die anfangs durch die Oberstdorfer Hoteliers verhinderte Sommerkonzession für den „Karatsbichl”.
1932 schloß sich die „Skischule Schedler” mit der „Skischule Brutscher - Müller - Merz” und anderen Skilehrern zur „Ersten Skischule Oberstdorf” zusammen. Diese Skischule besteht heute noch und wird derzeit geleitet von Hermanns Enkelin Claudia Joas.
Einen schmerzlichen Einbruch brachte der Zweite Weltkrieg. Hermann, der schon als 17jähriger zu den „Cheveaulegers” eingezogen worden war, wurde 1939 zum Polenfeldzug einberufen. Auch die folgende Zeit bis zum Kriegsende verbrachte er als Soldat auf dem Hohen Balkan, während seine Frau mit drei kleinen Kindern auf sich selbst gestellt war und mit einigen Getreuen die Gaststätte betrieb.
Das Angebot reichte vom Kakaoschalentee über Sauerkraut mit Erdäpfel zu Kuchen aus Schwarzmehl und Zuckerrübensaft als Zuckerersatz. Schließlich kam die Wirtschaft ganz zum Erliegen und der „Karatsbichl” mußte geschlossen werden.
Nach dem Krieg galt es wieder neu anzufangen. Das Skigelände wurde erweitert. 1949/50 bauten die Gebrüder Schedler unter der Leitung von Ingenieur Carry Groß den ersten Skischlepplift von Oberstdorf am Karatsbichl, welcher nach dem zweiten Bauabschnitt bis zur Höhe „Bergkristall” führte. Für Groß bedeutete dies eine Herausforderung, war es doch die erste technische Aufstiegshilfe dieser Art, die er konstruieren mußte (die Sesselbahn zum Schönblick war sein zweiter Auftrag).
Man betrat hier in vieler Hinsicht Neuland: Die Liftstützen waren noch Holzkonstruktionen, die technische Ausstattung fertigte die Oberstdorfer Firma ABIG, das erste Drahtseil, noch Kriegsware und nach einem Winter schon schadhaft, wurde mit Pferdekraft aufgezogen. Und es gab keine Zufahrt, die Kundschaft kam mit den Skiern auf dem Buckel.
Der Nachholbedarf im Skilauf und Skiunterricht war zu dieser Zeit enorm. Es waren nicht selten 10 bis 12 Skikursgruppen mit ca. 20 Personen im Gelände. Kam dann noch ein Torlauf, ein Standardlauf oder eine Skimeisterschaft dazu, war der Karatsbichl nahezu überfüllt. Dazu trugen auch die vielen Oberstdorfer Kinder bei, die sich hier mit Ski und Rodel vergnügten. Die Piste war daher stets glatt wie ein Brett. Auch die Oberstdorfer Schulen, zuerst mit Rektor Anton Henkel und später mit Walter („Muli”) Müller waren vertreten. Die Sprunglaufgrößen Toni Brutscher und Max Boikart übten hier, wie auch der Slalomspezialist Willi („Gummi”) Klein und der Abfahrer Franz Vogler, um nur ein paar zu nennen.
Große Tage erlebte der Karatsbichl mit folgenden Meisterschaften, deren Torläufe jeweils hier stattfanden.
Es waren dies zwei Allgäuer Alpine Skimeisterschaften:
Zwei Deutsche Alpine Skimeisterschaften sind zu verzeichnen:
Mit dem Bau des Höllwiesliftes 1961/62 wurden die Wettkämpfe dorthin verlegt.
1967, als die Holzstützen des Karatsbichlliftes altersschwach geworden waren, eine Autozufahrt jedoch weiterhin verwehrt wurde, entschloß man sich zum endgültigen Abbruch der Anlage. Dies war ein einschneidender Schritt für Hermann Schedler, dessen große Leidenschaft nach wie vor der Skisport war. Und so errichtete er 1968 einen „Skimuli” der Firma Funk, Oberstaufen. Auf diese Weise konnte sowohl für die Grundschule als auch für den Springernachwuchs (Andreas Bauer, Thomas Müller, Frank Löffler u.a.) eine Trainingsmöglichkeit beibehalten werden.
Am kältesten Tag im Januar 1968 trug man Hermann Schedler zu Grabe. Mit seinem Tod endete auch die Skiliftzeit am Karatsbichl. Sie ermöglichte einst einer Generation von Kindern die ersten Versuche im Skisport, liebevoll betreut vom „Schedler-Opa”. Wer „öü” sagen konnte, bekam Freifahrt am Lift. Aus dieser Kinderschar, die heute nun 30- bis 40jährigen, gingen die Organisatoren des Karatsbichler Fasnachtsskispringens hervor, die mit dieser Veranstaltung ihrem väterlichen Freund Hermann ein Andenken setzen wollen. Eine seiner Enkelinnen ging als geprüfte Snowboardlehrerin über den Bakken. Als man sie fragte, weshalb sie dem Skisport untreu geworden wäre, meinte sie: „Das hätte mein Opa bestimmt auch probiert!”
Was den Skilauf betrifft, so ist es still geworden um den Karatsbichl. Nur noch selten verirrt sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Skifahrer durch die Höllen, um hier Einkehr zu halten. Der stolze FIS-Hang („Sühändlarsbichl”) und sein Vorgänger („Mändlarsbichl”) sind vermurt und verwachsen. Sie teilen das Los der ehemaligen Liftabfahrten: Jugend mit Mulischlauch, Fuchslöcher oder die Leichte Abfahrt über die Kuh, Almoos zum Karatsbichl. Eine neue Generation von Kindern mit Eltern und Großeltern hat das Skigelände mit Schlitten und Plastikrutschern erobert. Alles hat eben seine Zeit!
Betritt man jedoch das Gasthaus, kann man feststellen, daß der „Karatsbichl” noch nichts von seinem Flair eingebüßt hat. Obwohl in den 60er Jahren noch einmal erweitert, ist die Urzelle, die Stube mit dem gemütlichen Kachelofen, das Kernstück des Hauses geblieben.
Erinnerungen an frühere Tage werden wieder wach. Die alte Wirtsstube atmet spürbar die Fröhlichkeit schöner Stunden aus. Die Skilehrer vom Karatsbichl der ersten Zeit, Toni Merz, Sepp Müller (Lixar), Willi Brutscher (Brutscharbeck), Philipp Haneberg, Hermann und Lise Schedler, August Seeweg, Alois Braxmair, Anton Jäger (Geagl), Willi Menz, Ludwig Waibel und Lise Weitenauer, scheinen im Geist aus ihren Bildern zu treten und sind mitten unter uns. Ja, man vermeint sogar das alte Skischullied noch zu hören, wo es hieß:
Wir sind die Oberstdorfer Skischul, hallo,
Ham a Schneid und fahrn die Klasse zwo.
Hei, so gehn wir, hei so stehn wir,
Servus, meine Herrn, mit Schwartling und Latern.
Uns ist kein Berg zu hoch, uns ist kein Hang zu steil,
Wir fallen alleweil beim Schwung, Ski Heil!
Nein, der „Karatsbichl” hält keineswegs Dornröschenschlaf! Noch immer wird er von Menschen, die das Traditionelle lieben, gerne besucht. Seit 1976 führt Schedler-Tochter Marie Luise mit ihrer Familie das Haus. Sie serviert ihren Gästen nach wie vor den Kaiserschmarren so, wie ihn einst Erzherzog Friederich von Österreich hier gerne gegessen hat.
Ich danke den Herren Claus P. Horle und Hans Schmid vom Skiclub 1906 Oberstdorf, Dr. Thomas Gayda/Kleinwalsertal, Sepp Behr/Sonthofen und Johann Seeweg jun., die mir bei der Abfassung dieses Berichtes wertvolle Hilfe geleistet haben.