Die alte Oytalwirtschaft;
im Hintergrund (v. li.) der Schneck, das Himmelhorn mit dem berühmten Rädlergrat und der Große Wilde.
Kein Wölkchen trübte den hellblauen Himmel, die Morgensonne hatte gerade die Bergspitzen erfaßt und kündete einen strahlenden Frühsommertag an, als ich im Oytal am „Seeanger” auf den kleinen Hügel stieg, der sich aus der weiten Ebene erhebt. Ich tat dies, weil ich von da oben einen besonders guten Rundblick auf die Rinderherde hatte, die dort weidete. Es war zwar Sonntag, aber die Rinder haben die Angewohnheit, auch an Sonn- und Feiertagen zu fressen und, soweit ihnen das möglich ist, ihre eigenen Wege zu gehen. Als Hirt der Herde hatte ich daher eine Sieben-Tage-Woche mit einem Tagespensum von 16 bis 18 Stunden.
Von der Anhöhe aus konnte ich die Rinderherde zum Großteil „ibrseache“ (übersehen, überschauen), das heißt, die Vollzähligkeit der Tiere feststellen. Bei ungünstigen Geländeverhältnissen, Regen und Nebel konnte diese Tätigkeit Stunden, ja halbe Tage dauern. An dem Morgen war die Arbeit in einer guten halben Stunde fast erledigt. Es blieb mir deshalb viel Zeit mich im Tal umzuschauen. Die Gemsen in den Seewänden, die Hirsche im Lugenalper Wald, der Fuchs, der um den Stall der Oytal-Wirtschaft schlich, oder die ersten Bergsteiger, die auf ihren „Drahteseln“ taleinwärts strampelten, all das konnte ich sehen. Auch wann der Oytalwirt und seine dienstbaren Geister aus den Federn schlüpften – nichts entging mir bei dieser morgendlichen Inspektion.
Um noch einige abgängige Rinder zu finden, ging ich eine Runde durch das weite Tal. Als ich nach etwa zwei Stunden zu meinem „Feldherrnhügel” zurückkehrte, sah ich eine Person inmitten der Herde. Mit dem Fernglas habe ich gleich Hanni, die Kellnerin des Oytalhauses, erkannt. Das Mädchen pflückte Blumen.
Für meine Arbeit war es zwar nicht unbedingt notwendig, aber es ergab sich halt so, dass ich einige Zeit später durch den eingezäunten Hofraum der Wirtschaft ging – schließlich führte dort auch die öffentliche Straße hindurch – und die Türe zum „Schtüble” offen fand. Ich ging die drei Stufen hoch und schaute hinein. Eingetreten bin ich nicht, denn, ein Besen und ein Schrubber gekreuzt im Türrahmen aufgestellt, das hieß auch für mich „off limits”. Die Mädchen wollten nicht, dass ein Tourist mit seinen dreckigen Bergschuhen eintritt, ehe der blankgescheuerte Holzdielenboden trocken war. Das „Schtüble” mit seiner braunen Holztäfelung, den Jagdtrophäen und den dazu passenden originellen Bildern lud regelrecht zu einem gemütlichen „Hock” ein. Wir haben darin viele schöne Stunden erlebt.
An diesem Morgen hatten die Bedienungen die gescheuerten Tischplatten mit weißen Tüchern eingedeckt und auf jedem Tisch stand eine Blumenschale. Ja, diese Blumenschalen, die hatten es in sich. Eine Schüssel mit dunkelgrünem Moos, zartrosanen Mehlprimeln, gelben Aurikeln, blauen Enzianen und anderen Blumen bildeten eine herrlich bunte Farbpalette. Und gerade diese hübschen Blumenarrangements sollten später eine Rolle spielen.
Nachdem keines der Mädchen anwesend war und ich meinen Guten- Morgen-Gruß nicht loswerden konnte, verließ ich diese Idylle und ging weiter meiner Beschäftigung nach. Etwa zwei Stunden später, so gegen 9.00 Uhr, kam ich wieder am Oytalhaus vorbei. Jetzt war nichts mehr mit Ruhe, nichts mehr mit Idylle und Beschaulichkeit, die beiden Bedienungen schossen wie Furien auf mich zu. „Du kommst uns gerade recht, so eine Unverschämtheit, so eine Sauerei, du solltest das ausbaden müssen”, und noch weitere solche Freundlichkeiten warfen die beiden Hübschen mir an den Kopf. Auf meine ahnungslose Frage: „Ja, was habt ihr denn?”, ging die Kanonade aufs neue los und endlich hieß es: „Komm nur mit, dann wirst du es schon sehen!” Ich war mir keiner Schuld bewußt und ließ mich von den aufgebrachten Mädchen die Stufen hinauf ins „Schtüble” schubsen. Mein Gott, wie sah es dort aus! – Stühle umgeworfen, Tischdecken herunter gerissen, Salz- und Pfefferstreuer und zerbrochene Blumenschalen am Boden, Tische, Bänke und Fußboden übersät mit „Gaißbolla” (Ziegenmist). Was war geschehen?
Meine drei Ziegenböcke, die ich bei der Herde hatte, haben einen Morgenspaziergang gemacht. Und mit der Neugierde, die Geißen nun einmal angeboren ist, haben sie durch die offene Tür ins „Schtüble” geschaut. Die Blumen und der Duft von Salz, für das Geißen meilenweit laufen, haben die drei animiert, das Eintrittsverbot zu mißachten. Sie stiegen auf die Bänke, leckten das Salz und fraßen die Blumen aus den Schalen. Eines der Mädchen trat ahnungslos durch die Tür, erschrak und blieb schreiend stehen. Den Tieren war daher der einzige Fluchtweg versperrt, und dann ging die wilde Jagd rundum in der Stube. In ihrer Aufregung und Angst haben die Tiere einen nicht unerheblichen Darm- und Blaseninhalt in der Stube verstreut, bis ihnen endlich die Flucht gelang.
Zur Schadensbegrenzung und um etwas „gut Wetter” zu machen, half ich den Mädchen Tische und Stühle ins Freie zu tragen, wo sie mit heißem Wasser abgebürstet wurden. Und als im „Schtüble” eine gute Schaufel voll des „Streugutes” entfernt, Bänke und Boden frisch geschrubbt waren, wurde die Türe geschlossen und die Fenster zum Lüften geöffnet. Als ich „mein Fett” abbekommen hatte und nach den Sündern suchte, fand ich diese, kaum 100 Meter vom „Tatort” entfernt, friedlich wiederkäuend, im Schatten einer jungen Fichte liegend. Nun, was hätte ich den „Wirtshausbesuchern” sagen sollen?
An dem Sonntagmorgen wurde im Oytal das romantische Nebenstübchen etwas später geöffnet. Auf den noch feuchten hölzernen Tischplatten lagen keine Decken und kein Blümchen zierte den Raum. Als ich abends, als der letzte Tourist gegangen war, wiederkam und scherzhaft diese lieblose Gästebetreuung bemängelte, flogen mir ein paar Wischtücher um die Ohren. Doch konnten die Mädchen nach einigem Schmollen schon wieder lachen. Und die Lehre aus der Geschichte: Nach dem Ausputz wurde künftig immer die Türe des Stübchens geschlossen und nur die Fenster zum Lüften geöffnet.